Im Hier und Da

Der Bedarf an digitalen Medien ist in fast jedem Bereich des Lebens extrem gestiegen. Insbesondere Videokonferenzsysteme zählen zu den Gewinnern der Coronapandemie. Welche Auswirkungen sie in der Lehre haben und welches Trendthema derzeit im Fokus steht, erzählen die Fachleute Dr. Anne Thillosen und Markus Schmidt vom E-Learning-Portal e-teaching.org.

Wir blicken zurück auf turbulente Zeiten: Frau Thillosen, mit mehr als 25 Jahren Berufserfahrung sind Sie Pionierin im Bereich E-Learning. Haben wir durch die COVID-19-Pandemie eine Digitalisierung im Zeitraffer erlebt?

Anne Thillosen: Noch kurz vor Corona kam ein Expertenteam in einer Studie zu dem Schluss, dass zwar auch an Hochschulen zunehmend digitale Medien in der Lehre eingesetzt werden – doch dieser Prozess vollziehe sich eher „schleichend“, eine Disruptionsgefahr stehe in Deutschland nicht zu befürchten. Und prompt wurden wir völlig unerwartet mit einer Krise konfrontiert, die uns das Gegenteil lehrte. Viele Lernende und Lehrende wurden regelrecht ins kalte Wasser geworfen.

Dr. Anne Thillosen ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Leibniz-Institut für Wissensmedien (IWM) und leitet das vom IWM angebotene Informations- und Qualifizierungsportal e-teaching.org. Die studierte Theologin ist u. a. Vorstandsmitglied der Gesellschaft für Medien in der Wissenschaft (GMW) und Mitglied des Stakeholder-Dialogs des Hochschulforums Digitalisierung. Außerdem vertritt sie die Leibniz-Gemeinschaft in der Allianz-AG „Digitales Lehren, Lernen und Vernetzen“.

Allerdings hat das, nicht nur aus meiner Sicht, an den Hochschulen – im Gegensatz zu vielen anderen Bildungsbereichen – überraschend gut geklappt. Denn hier gab es bereits etliche Erfahrungen und Vorarbeiten zum Thema E-Learning sowie meist eine technische Grundausstattung. Anders als in den bisherigen Konzepten standen allerdings mit einem Mal Videokonferenzsysteme im Vordergrund, weil sie es möglich machten, die Präsenzlehre relativ einfach und schnell aus dem Vor-Ort-Raum in den digitalen Raum zu übertragen.

Man stellte jedoch sehr schnell fest, dass dieses Notfallszenario allenfalls als vorübergehende Lösung taugt – nicht zu verwechseln mit professionell geplanter und durchgeführter Onlinelehre, darauf haben wir auch bei e-teaching.org stets hingewiesen. Nicht umsonst wurde im Sommersemester 2020 der Begriff Emergency Remote Teaching (ERT) geprägt.

So gab es auch einige Widerstände, wenn etwas nicht auf Anhieb funktionierte. Ich erinnere mich noch gut, wie bei unserer ersten Onlineveranstaltung im Lockdown, an der 800 Leute teilnahmen, die Präsentation nicht hochgeladen werden konnte. Sofort kritisierten Teilnehmende im Chat, dass man daran ja schon sehe, dass Lehre mit digitalen Medien nicht funktioniere. Andere wiederum waren dankbar für die Unterstützung und überrascht, was mit digitalen Medien alles möglich ist. Mit der Pandemie sind die Transformationsprozesse natürlich extrem gepusht worden. Aber allein durch die Coronaerfahrungen werden die Veränderungen nicht nachhaltig bleiben. Dafür braucht es strategische Prozesse zur Integration digitaler Medien in der gesamten Hochschule – nicht nur in der Lehre, sondern auch in Forschung und Verwaltung.

Markus Schmidt: Seit 15 Jahren organisieren wir bei e-teaching.org Onlineveranstaltungen für ein großes Fachpublikum. Vor jeder Veranstaltung haben wir lange Zeit explizite Technikchecks gemacht. Es dauerte manchmal Tage, bis alle Referenten die nötigen Voraussetzungen in Form von funktionierenden Headsets, Computern und ausreichender Bandbreite schaffen konnten. Lange Zeit haben wir auf das Videokonferenztool Adobe Connect gesetzt, das unkompliziert im Browser gestartet werden konnte. Bei unseren Veranstaltungen haben wir immer wieder neue Teilnehmende in Gruppen von bis zu 200 Personen. Denen wollten wir nicht zumuten, sich einen Client zu installieren.

Markus Schmidt ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Leibniz-Institut für Wissensmedien (IWM). Er beschäftigt sich mit Open-Source-basierten Systemen, Webentwicklung und digitalen Bildungsressourcen. Er ist verantwortlich für die technische und konzeptionelle Weiterentwicklung von e-teaching.org. Dazu gehören die Integration webbasierter
Systeme für Kommunikation und interne Zusammenarbeit sowie die Weiterentwicklung des Plone-basierten Content-Management-Systems für e-teaching.org auf Basis von Plone und Python.

Es gab insgesamt wenig Erfahrung mit Videokonferenzsystemen, vor allem in professionellen Settings und großen Veranstaltungen – und zu wenig Bereitschaft, sich mit diesem Medium auseinanderzusetzen und in das Know-how und die Technik zu investieren. Mit dem Lockdown haben sich auf der einen Seite schnell bessere Systeme durchgesetzt, die auch Unzulänglichkeiten bei technischer Ausstattung und Bandbreite kompensieren konnten. Auf der anderen Seite mussten sich nun viele Menschen damit befassen, um überhaupt noch arbeiten oder lernen zu können. Das hat den Erfolg der Videokonferenzsysteme – insbesondere
der cloudbasierten – sicherlich massiv vorangetrieben.

Mit den neuen Rahmenverträgen für cloudbasierte Web und Videokonferenzdienste haben wir auf die durch Corona neu entstandenen Bedarfe unserer Teilnehmer reagiert. Haben Sie bei e-teaching.org auch neue Bedarfe adressiert?

Markus Schmidt: Dass sich jetzt Bedarfe in die eine oder andere Richtung stark verändert haben, kann ich so pauschal nicht sagen. Aber wenn wir mal auf die Zielgruppe unserer Plattform e-teaching.org schauen, dann sind das ursprünglich Menschen gewesen, die bei der digitalen Entwicklung ganz weit vorne waren, viele sind Pioniere im Bereich der Lehre mit digitalen Medien oder interessierten sich auf jeden Fall sehr dafür. Mit Corona kam auf einmal eine andere Bandbreite von Leuten dazu, die keine oder wenig Erfahrung mit digitalen Medien im Berufsalltag hatten.

Anne Thillosen: Zu Beginn der Pandemie haben wir deshalb viele Einführungen für Newbies gemacht. Ein weiterer Schwerpunkt waren Veranstaltungen zum Erfahrungsaustausch. Das war im Kontext Lehre bisher eher selten. Insbesondere, wenn etwas schiefging, wurde kaum darüber gesprochen. Die ersten Coronasemester waren eine völlig neue Situation – auch für die, die bereits Erfahrung mit Onlinetools und mit didaktischen Konzepten hatten. Da gab es Gesprächsbedarf!
Zu unserer Verwunderung war die Qualität der Lehre mit digitalen Medien ein Thema, das viel mehr Personen interessierte, als wir erwartet hatten. Wir haben dazu ein sogenanntes Themenspecial ausgerichtet, in dem es auch darum ging, den Qualitätsbegriff abhängig von den Bedarfen der eigenen Institution zu definieren und dafür Standards zu entwickeln.

Bei e-teaching.org beobachten wir, welche Themen der Community gerade unter den Nägeln brennen. Und diese Themen greifen wir auf. Manchmal setzen wir aber auch Themen, die uns besonders wichtig erscheinen, selbst wenn wir denken, dass sich viele nicht dafür interessieren – und bei der Qualität haben wir dann erst mit dem Angebot gemerkt, dass hier großer Bedarf bestand.

“Ein echtes Trendthema sind momentan hybride Veranstaltungen.”

Und welches Thema ist gerade aktuell, können Sie einen Trend ausmachen?

Anne Thillosen: Ein echtes Trendthema sind momentan hybride Veranstaltungen. Schon allein, wie sich die Definition des Begriffs Präsenz verändert hat: Vor COVID-19 meinte man damit die Präsenz vor Ort. Und jetzt haben wir alle die Erfahrung gemacht, dass es Präsenz auch online gibt. Und um es noch ein bisschen verwirrender zu machen, kann beides auch noch kombiniert werden.

Einen Moment: Präsenz online – das müssen Sie mir erklären.

Anne Thillosen: Nun, jede Videokonferenz ist ja eine „Präsenzveranstaltung“: Die Teilnehmenden sind gleichzeitig online – Präsenz ist ein zeitlicher Begriff. In Bezug auf die Kombination von „online“ und „vor Ort“ kann ich mich an eine Veranstaltung erinnern, die schon einige Jahre vor Corona stattfand. Das Treffen fand vor Ort an der Uni Bremen statt, nur ich war online zugeschaltet – über einen kleinen fahrbaren Telepräsenzroboter, den ich gleichzeitig auch noch steuern musste. Für die Leute dort war das ganz witzig. Für die war ich dadurch viel präsenter, als wenn ich nur auf dem großen Bildschirm zu sehen gewesen wäre. Weniger witzig war, dass ich ständig jemandem in die Hacken gefahren bin, ohne es zu merken.
Wenn ich zurücküberlege, war das vermutlich die erste „hybride“ Veranstaltung, an der ich teilgenommen habe – mit ganz realen, wenn auch schmerzhaften Auswirkungen vor Ort.

Hybridveranstaltungen sind eine echte Herausforderung und nur zum Teil eine Frage des Videokonferenzsystems. Das hat ganz viel mit der Ausstattung des Raumes zu tun. Da gibt es die unterschiedlichsten Varianten, Teilnehmende zu integrieren – vor Ort und online.

In jüngster Zeit scheint der Ruf nach der schönen alten Vor-Ort-Präsenz jedoch lauter zu werden. Oder täuscht das?

Markus Schmidt: Das liegt sicherlich auch daran, dass der Komplexitätsgrad für Onlineveranstaltungen – zumal wenn hybride Settings hinzukommen – immer noch so hoch ist, dass Vor-Ort-Präsenz im Gegensatz dazu vieles einfacher und direkter macht. Wenn es beispielsweise darum geht, komplexe Fragestellungen in einer größeren Gruppe auszudiskutieren, komme ich vor Ort schneller ans Ziel.

“Das, was gemeinhin als hybrid bezeichnet wird, haben Kolleginnen und Kollegen von mir als die Kombination des Schlechtesten beider Welten bezeichnet. Und das oft zu Recht!”

Anne Thillosen: Das ist sehr unterschiedlich: Die einen finden es schön, alle wiederzusehen, die anderen oft überflüssig und lästig. Viele sprechen jetzt von einem Rollback in die reine Präsenzlehre. Zurück in die vermeintlich gute alte Zeit ist aber auch keine Lösung.

Ich kann mich noch gut erinnern, wie viel Kritik es an der Präsenz- und vor allem Frontallehre sowie der Anwesenheitspflicht gab: Vor Corona wurde das keineswegs immer als Privileg verstanden.

Ich beobachte seit einiger Zeit in der Lehre die Anforderung, sowohl Präsenz vor Ort als auch Streaming anzubieten und den Stream noch einmal asynchron online zur Verfügung zu stellen – sei es wegen Kinderbetreuung oder der Pflege von Angehörigen. Diese Anspruchshaltung ist neu, stellt aber für Lehrende eine völlige Überforderung dar. Denn idealerweise macht man sich ja Gedanken dazu, wie man eine Lehrveranstaltung gestaltet und warum man das so machen will – nicht jedes Lehrszenario ist für alle Inhalte und Lehrziele gleichermaßen geeignet. Das, was gemeinhin als hybrid bezeichnet wird, sprich ein Teil der Gruppe ist in einem Hörsaal vor Ort und der andere per Stream zugeschaltet, haben Kolleginnen und Kollegen von mir als die Kombination des Schlechtesten beider Welten bezeichnet. Und das oft zu Recht!

Wie würde denn eine optimale Lösung für Hybridveranstaltungen aussehen?

Anne Thillosen: Die Frage ist, ob es die eine optimale Lösung überhaupt gibt. Hybrid, wie es jetzt meist verstanden und praktiziert wird, ist in der Regel eine Minimallösung, bei der die Personen, die online zugeschaltet und nicht vor Ort dabei sind, auch nicht gut integriert sind. Meiner Ansicht nach sollte die didaktische Gestaltung dabei im Vordergrund stehen. Es gibt natürlich Möglichkeiten, die Räume technisch gut auszustatten und die online Teilnehmenden z. B. über Bildschirme an der Seitenwand so zu übertragen, dass sie für alle Teilnehmenden im Raum gut sichtbar sind. Vor Ort können Buddys eingesetzt werden, die darauf achten, wenn online Teilnehmende eine Frage haben.

“Aus ökonomischer und ökologischer Sicht ist es ganz klar ein Vorteil, dass jetzt viele Dienstreisen wegfallen.”

Bereits vor Corona startete bei uns am Institut gemeinsam mit der Technischen Hochschule Köln ein Projekt, das sich mit hybriden Lernräumen beschäftigt. Da gibt es tolle Beispiele.

Markus Schmidt: Aus ökonomischer und ökologischer Sicht ist es ganz klar ein Vorteil, dass jetzt viele Dienstreisen wegfallen. Der Aufwand, an Videokonferenzen teilzunehmen, ist viel geringer. Aber es gibt Tage, an denen ich von einer Videokonferenz in die nächste springe. Ich merke, dass ich zunehmend eine gewisse Müdigkeit entwickele. Deshalb sehne ich mich bei wichtigen Veranstaltungen wirklich danach zurück, mich vor Ort zu treffen.

Anne Thillosen: Müdigkeit ist ein gutes Stichwort: Der Begriff Zoom Fatigue ist mittlerweile in aller Munde und meint, dass Videokonferenzen Ermüdungserscheinungen bis hin zur Erschöpfung zur Folge haben können. Dafür gibt es verschiedene Theorien: Fehlender Blickkontakt und die größtenteils wegfallende nonverbale Kommunikation wie Körpersprache und Mimik führen dazu, dass das Gehirn diese durch vermehrte Interpretationsleistung ausgleichen muss.

“Erhöhte Selbstaufmerksamkeit kann sehr dysfunktional sein, weil sie viel Aufmerksamkeit und Konzentration abzieht und dadurch zu Stress führt.”

Der Begriff Embodied Cognition beispielsweise beschreibt, dass nicht nur die Psyche, sondern der gesamte Körper an kognitiven Prozessen teilnimmt. Wenn Teilnehmende nun körperlich an unterschiedlichen Orten, jedoch virtuell an einem Ort sitzen, kann dieser Widerspruch für das Individuum anstrengend sein.

Ein anderes Phänomen ist, dass wir nicht nur die anderen Teilnehmenden ständig sehen, sondern auch uns selbst. Diese erhöhte Selbstaufmerksamkeit kann sehr dysfunktional sein, weil sie viel Aufmerksamkeit und Konzentration abzieht und dadurch zu Stress führt. Das sind alles Sachen, mit denen wir erst seit zweieinhalb Jahren konfrontiert sind und die wir noch lernen müssen. Möglicherweise gibt es künftig technische Lösungen, die uns dabei helfen werden. Aber so weit sind wir noch nicht.

Sehen Sie weitere Herausforderungen? Oder vermissen Sie Funktionen?

Markus Schmidt: Videokonferenzsysteme können derzeit keinen kompletten Arbeitsprozess in Bezug auf Kommunikation, Kollaboration und Lernen abbilden. Auch die zufälligen Begegnungen an physischen Orten fehlen. Diese lassen sich nur sehr unzureichend abbilden, sind aber für den Alltag in Arbeit oder Lehre ganz wichtig. Menschen, die weniger offen sind und über geringer ausgeprägte Netzwerkfähigkeiten verfügen, laufen in so einem Setting Gefahr, noch mehr den Anschluss zu verlieren. Hinzukommt, dass die Zeit, die wir in digitalen Konferenzen und Meetings verbringen, massiv zunimmt.

Anne Thillosen: Was mir fehlt, ist die Integration von verschiedenen Kollaborations-Tools auf einer Oberfläche, damit ich nicht ständig zwischen verschiedenen Oberflächen wechseln muss. Ohne zweiten Bildschirm wäre ich aufgeschmissen. Da kann noch einiges verbessert werden.

Was ich auch sehr spannend finde: Neue Ideen zu entwickeln, wie Konferenzen im Ganzen abgebildet werden können, beispielsweise mit Poster Gallery Walks, oder wie informelle digitale Kontaktmöglichkeiten besser ausgestaltet werden können. Der fehlende informelle Austausch wird ja immer beklagt. Wir haben zwar schon Programme wie gather.town getestet, aber so richtig überzeugend ist das alles noch nicht. Aber da scheint momentan viel zu passieren bei den Herstellern. Wir lassen uns überraschen und sind gespannt, was die Digitalisierung noch mit sich bringt – und vor allem, wie wir diesen Prozess mitgestalten können.

Die Fragen stellte Maimona Id (DFN-Verein)

E-TEACHING.ORG
Mit dem im Jahr 2003 gegründeten Portal e-teaching.org bietet das Tübinger Leibniz-Institut für Wissensmedien (IWM) wissenschaftlich fundierte und praxisorientierte Informationen zur Gestaltung der Hochschullehre mit digitalen Medien. Das Portal, das 2020 von der Gesellschaft für Pädagogik, Information und Medien e. V. mit dem renommierten Comenius-Award ausgezeichnet wurde, verzeichnet täglich bis zu 10.000 Besuche. Das IWM ist ein außeruniversitäres Forschungsinstitut in der Trägerschaft der gemeinnützigen, privatrechtlichen Stiftung „Medien in der Bildung“. Es wurde 2001 gegründet und ist Mitglied der Leibniz-Gemeinschaft.