Unabhängig, solidarisch und selbstbestimmt – 40 Jahre DFN-Verein
Als Prof. Dr. Bernhard Neumair, ehemaliger Direktor des Scientific Computing Center (SCC) am Karlsruher Institut für Technologie (KIT), 2005 in den Vorstand gewählt wurde, befand sich der DFN-Verein, mehr als 20 Jahre nach seiner Gründung, in einer komplexen Umbruchphase. Das Wissenschaftsnetz, die technische Plattform des DFN, wurde völlig neu konzipiert. Der damalige stellvertretende Vorstandsvorsitzende erinnert sich, welche Ereignisse dazu führten und welche Herausforderungen dies mit sich brachte.
13. August 2024
Im Dezember 2005 wurden Sie in den Vorstand des DFN-Vereins gewählt. Da war der Verein 21 Jahre alt. Ihr Draht zum DFN besteht aber schon sehr viel länger.
Nach meinem Studium der Informatik und Elektrotechnik an der TU München habe ich 1987 angefangen, als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl von Heinz-Gerd Hegering an der LMU zu arbeiten. Dieser war zu der Zeit stellvertretender Vorstandsvorsitzender im DFN-Verein und erzählte begeistert von den Fortschritten, wenn er aus Berlin kam. Durch Herrn Hegering habe ich die ersten Pionierjahre und Meilensteine des DFN miterlebt. Danach ging ich zunächst in die freie Wirtschaft. Ich wollte nicht nur forschen, sondern vor allem hands-on arbeiten, ein reales Netz planen und verwirklichen. Und auch hier, bei der DeTeSystem – einer Telekom-Tochter, die den DFN als Kunden betreute – begegnete ich dem Verein wieder.
Es dauerte aber noch ganz schön lange, bis Sie an Bord waren.
Als ich 2003 den Ruf an die Universität Göttingen erhielt und gleichzeitig Geschäftsführer der Gesellschaft für wissenschaftliche Datenverarbeitung mbH Göttingen (GWDG) wurde, kamen Herr Hegering und Wilfried Juling, der spätere DFN-Vorstandsvorsitzende – damals schon im Verwaltungsrat – auf mich zu. Zu beiden hatte ich die ganzen Jahre engen Kontakt gehalten. Nach dem Motto, der Neumair ist zurück in der akademischen Welt, fragten sie mich, ob ich mir vorstellen könnte, im Verein aktiv zu werden. Wie Netz funktioniert, wusste ich, und das wiederum wussten die beiden. Der DFN-Verein ist DAS – bitte großschreiben – wissenschaftliche Netz in Deutschland. Wenn man da gefragt wird, dann denkt man nicht lange nach, man freut sich und macht einfach mit. Bei meiner Historie und meinen Erfahrungen war es eine Ehre, sich beim DFN zu engagieren.
Als Sie 2005 in den Vorstand gewählt wurden, befand sich der DFN-Verein in einer Umbruchphase. Was war passiert?
Das waren in der Tat aufregende Zeiten für den DFN-Verein. Zum einen die bahnbrechenden Entwicklungen im Bereich der Kommunikations- und Informationstechnologien, die sich natürlich auch auf das Wissenschaftsnetz auswirkten. Die Liberalisierung des Telekommunikationsmarktes und die damit entstandene Vielfalt der Marktanbieter nach dem Wegfall des Netzmonopols der Telekom eröffneten ganz neue Möglichkeiten für den DFN-Verein. Wir wollten das Wissenschaftsnetz neu erfinden. Und ausgerechnet zu der Zeit kündigte das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) die bisherige Förderung für den DFN-Verein. Mit dieser hatte der Bund seit Gründung des Vereins 1984 eine Anschubfinanzierung für den Aufbau des Wissenschaftsnetzes und seiner Infrastruktur bereitgestellt – wir sprechen hier von einem siebenstelligen Betrag. Die sogenannte Fehlbedarfsfinanzierung sollte einen finanziellen Ausgleich für die hohen Investitionsbeschaffungen des Netzaufbaus und -betriebs sowie für die DFN-Forschungsprojekte darstellen. Dieses Sicherheitsnetz fiel nun weg.
“Seiner Bezeichnung als „Selbsthilfe der Wissenschaft“ hat der DFN damit alle Ehre gemacht.”
Mit den Nachwirkungen hatten wir im neu gewählten Vorstand alle Hände voll zu tun. Als gemeinnütziger Verein waren wir zum Beispiel stark eingeschränkt, was die Kreditaufnahme anging und an die zeitnahe Verwendung von Mitteln gebunden.
Das war eine nicht zu unterschätzende existenzielle Herausforderung für den Verein, aus der er jedoch gestärkt und vor allem autark hervorging. Mit dem ausgeprägten Solidaritätsbewusstsein der Mitgliederschaft konnte die Finanzierung gestemmt werden. Seiner Bezeichnung als „Selbsthilfe der Wissenschaft“ hat der DFN damit alle Ehre gemacht. Diese Unabhängigkeits- und Selbstbestimmungsbestrebungen sollten sich mit der Planung der vierten Generation des Wissenschaftsnetzes fortsetzen.
Inwiefern war der DFN mit dem neuen Netz selbstbestimmt und wie unterschied es sich von seinem Vorgänger?
Mit dem X-WiN verfügte die Wissenschaft in Deutschland zum ersten Mal über ein eigenes flächendeckendes Glasfasernetz mit Anschlusskapazitäten von bis zu 10 Gigabit pro Sekunde sowie einer eigenen Übertragungstechnologie mit frei skalierbaren Bandbreiten – ein absolutes Novum. Noch beim Gigabit-Netz, dem G-WiN, war es üblich, das Netz mit gemanagten Wellenlängen am Stück zu kaufen – ohne zu wissen, wie es bis ins Kleinste zusammengesetzt ist. Unser Ziel war jedoch, das Netz mit sämtlichen Elementen in eigener Funktionsherrschaft zu betreiben. Dafür wurde eine völlig neuartige Topologie konzipiert. Der Einsatz von WDM-Technologie (Wavelength-Division-Multiplexer, WDM), durch den erstmalig die gleichzeitige Nutzung von mehreren Wellenlängen auf einer Glasfaser möglich war, gehörte zu den wesentlichen Aspekten des neuen Konzepts. Für die Planung der Netzhierarchie und der Zugangsinfrastruktur wurde sogar ein mathematisches Optimierungsverfahren entwickelt.
2004 startete der Umbau mit der europaweiten Ausschreibung über die vier Lose Glasfasern, Veredelung von Glasfasern, Wellenlängen sowie Netzüberwachung. Bereits nach zwei Jahren wurde das X-WiN am 3. Mai 2006 mit einem Festakt am Deutschen Elektronen-Synchrotron DESY in Hamburg in Betrieb genommen. Die Migration vom G-WiN auf das X-WiN in den damals 46 Kernnetzstandorten vollzog sich in zwei Phasen und verlief völlig störungsfrei – auch das eine Meisterleistung. Zudem ging mit der Umgestaltung des Netzes eine massive Leistungssteigerung einher.
Ich komme noch einmal darauf zurück: Was hatte das mit der Unabhängigkeit des Vereins zu tun?
Mit der Möglichkeit, nun in eigener Funktionsherrschaft regelmäßige Leistungssteigerungen der Bandbreiten vornehmen sowie das Netz auf höchste Anforderungen der Teilnehmer flexibel anpassen zu können, festigte der DFN-Verein noch einmal die Souveränität und die internationale Konkurrenzfähigkeit seiner Mitglieder und teilnehmenden Einrichtungen. Denn schon damals gehörte das X-WiN zu den weltweit leistungsfähigsten und innovativsten Kommunikationsnetzen – insbesondere was die Verfügbarkeit und Ausfallsicherheit anging.
Wie hat die neue Topologie zu der höheren Verfügbarkeit und Ausfallsicherheit beigetragen?
Zunächst einmal waren die Kernnetzstandorte im X-WiN doppelt, das heißt über zwei unabhängige Strecken, angebunden. Dadurch konnten nicht nur eine höhere Ausfallsicherheit gewährleistet, sondern auch Wartungen unterbrechungsfrei durchgeführt werden. Bei der Neubeschaffung der Routertechnik wurde insbesondere auf eine redundante Ausstattung der wichtigsten Komponenten geachtet. Alle wichtigen Teile der aktiven Netzelemente waren redundant ausgelegt.
Wenn irgendwo ein Router gebootet werden muss, sind das Ausfälle von maximal zehn Minuten bis eine Stunde. Wenn aber die komplette Technik defekt ist und Komponenten erst wieder besorgt werden müssen, reden wir von einem Zeithorizont von mehreren Tagen. In der Praxis hat es tatsächlich Fälle gegeben, bei denen bedingt durch Brände große Komponenten ersetzt werden mussten. Die Abhängigkeit von der Funktionalität eines Anschlusses, insbesondere bei Großforschungsvorhaben, ist enorm und kann unter Umständen kritisch werden. Mit dem Konzept der Doppelanbindung, insbesondere für die Teilnehmerstandorte, die nicht an das Kernnetz angeschlossen waren, haben wir dieser erhöhten Abhängigkeit der wissenschaftlichen Einrichtungen Rechnung getragen und konnten damit eine zusätzliche Absicherung gegen Ausfall und Konnektivitätsverlust schaffen.
Die Idee der Doppelanbindung war also ein absoluter Gamechanger.
Das kann man so sagen. Letztendlich hat diese doppelte Anbindung eine langfristige Kundenbindung erzeugt und damit eben ganz hervorragend zur Lösung der Problematik der Fehlbedarfsfinanzierung beigetragen. Und es hat neben neuen Einrichtungen auch frühere Einrichtungen wieder ans Netz gebracht. Ich glaube, heute gibt es nur noch sehr wenige Wissenschaftsinstitutionen, die nicht in irgendeiner Form am X-WiN partizipieren.
In den Folgejahren haben wir die Doppelanbindung im X-WiN weiter ausgebaut. So konnte ab 2009 der Standardanschluss für DFNInternet mit einer doppelten Anbindung angeboten werden. Durch die extreme Komplexität der Planung und Realisierung, die die gesamte Architektur betraf, war das Projekt eine enorme Herausforderung. Es ging um weit mehr als nur um technische Aspekte: In die Ausschreibung, Risikobewertung und Kalkulation des Projekts sowie Konzeption des Betriebsmodells war letztendlich die gesamte Geschäftsstelle eingebunden. Hervorzuheben ist hier der enorme Kraftakt der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die dieses Großprojekt gestemmt haben. Da wurde Hervorragendes geleistet. Aus zwei Gründen ist die Doppelanbindung für mich ein echtes Highlight: die technische Komplexität und die Wirkung, die sie in der Mitglieder- und Teilnehmerschaft entfaltet hat.
“Wir haben es geschafft, eduroam und die DFN-AAI zu flächendeckenden Standardservices auszurollen.”
Gab es andere Schlüsselfaktoren, die ähnliche Wirkung entfaltet haben?
Die eine Seite ist das Kernnetz und DFNInternet, quasi das Kerngeschäft. Dieses wird komplementiert durch sehr wichtige Zusatzdienste.
Was ich als absoluten Meilenstein verbuche, ist, dass wir es geschafft haben, eduroam und die DFN-AAI zu communityweiten, flächendeckenden Standardservices ausgerollt zu haben – und zwar europaweit. Gerade wir in Baden-Württemberg setzen stark auf die DFN-AAI, was das Management und die Aussteuerung von wissenschaftlichen Kooperationen unserer Einrichtungen betrifft. Warum ist das für mich ein weiteres Highlight? Erstens sind eduroam und die AAI hochgradig wissenschaftsspezifische Dienste, die für Forschung und Lehre maßgeschneidert sind. Zweitens werden sie weitgehend eigenständig vom DFN-Verein implementiert und betrieben, inklusive umfangreicher eigener SW-Entwicklung.
Die DFN-AAI hatte damals noch einen weiteren Aspekt: Sie war ein Einstieg und der Grundstein für die Weiterentwicklung der Sicherheitsdienste im DFN. In den nachfolgenden Jahren hat sich die Relevanz dieses Dienstes für die teilnehmenden Einrichtungen immer deutlicher abgezeichnet. Der Dienst entfaltet nach wie vor enorme Wirkung.
Ist der DFN-Verein mit diesen Alleinstellungsmerkmalen und seinem maßgeschneiderten Netz konkurrenzlos?
Was den blanken Internetanschluss angeht, kann ich mich durchaus anderweitig versorgen. Mit dem Wissenschaftsnetz habe ich aber eine besonders sichere und zuverlässige Anbindung, die mir außerdem den direkten Übergang in andere Wissenschaftsnetze auf der ganzen Welt ermöglicht. Andere Anbieter verfügen weder über diese über Jahrzehnte gewachsene Vernetzung noch über dieses auf Wissenschaft und Lehre spezialisierte Branchen-Know-how, wie man in der freien Wirtschaft sagen würde. Aber es gibt auch Angebote im DFN-Verein mit einer geringeren Fertigungstiefe, die wir zukaufen und die darum einer gewissen Konkurrenz unterliegen.
Welche meinen Sie?
Wir führen das Interview gerade über die Videokonferenzsoftware Zoom, die sich gerade in der Coronapandemie durchgesetzt hat. Der DFN-eigene Dienst DFNconf wird heute nicht mehr breit genutzt, sondern insbesondere dann, wenn sichere, vertrauliche Gespräche notwendig sind. An diesem Beispiel sieht man aber auch gut, wozu der DFN-Verein in der Lage ist. Mit einer groß angelegten Ausschreibung von Rahmenverträgen für hochskalierende, cloudbasierte Web- und Videokonferenzdienste hat der DFN-Verein dafür gesorgt, dass seine Teilnehmer deutschlandweit Angebote mit höchst attraktiven Konditionen wahrnehmen und sich den Aufwand eigener Ausschreibungen sparen konnten. Die wenigsten Bundesländer haben es geschafft, Zoom auf bestimmte Datenschutzkriterien zu verpflichten. Der DFN-Verein hat es geschafft. Auch das ist ein großer Erfolg.
Gibt es Anforderungen aus der Wissenschaft, die wir nicht bedienen können? Beispielsweise sagte ein HPC-Forscher in einem früheren Interview, dass er Daten noch ganz altmodisch teils auf Datenträgern von A nach B transportiert.
„Never underestimate the bandwidth of a station wagon full of tapes hurtling down the highway.“ Das Zitat stammt aus dem Fachbuch Computer Networks von Andrew S. Tanenbaum, der damit in den 80er-Jahren quasi die Bibel der Netzkommunizierenden geschrieben hat. Es gibt bis heute Anwendungen, beispielsweise im Bereich Archivierung, bei denen dieser Transport von Daten sinnvoll ist. Das ist in keiner Weise schädlich. Diese Limitierungen haben nichts mit dem Wissenschaftsnetz zu tun und resultieren weniger aus der im X-WiN möglichen Bandbreite. Diese können wir nämlich fast beliebig hochdrehen. Im internationalen Vergleich bewegen wir uns mit dem X-WiN schon an der Front aller möglichen Techniken.
Welche Herausforderungen sehen Sie heute für Forschung und Lehre? Und was bedeutet das wiederum für den DFN?
Eine wesentliche Herausforderung für Einrichtungen besteht darin, dass sie immer größere Serviceportfolios benötigen, die sie technisch nicht selbst realisieren können. Das bedeutet letztendlich, dass sie diese durch Ausschreibungsverfahren, durch Einkauf und durch Partnermanagement beschaffen und sich darüber hinaus mit Zertifizierungsfragen oder Fragen der Compliance oder Informationssicherheit auseinandersetzen müssen. Und selbst das können insbesondere kleine Einrichtungen nicht immer leisten. Dafür brauchen sie starke, breit aufgestellte Partner wie den DFN-Verein. Das bedeutet für uns, dass wir uns mit immer umfangreicheren Anforderungen beschäftigen und unter Umständen unser Produktportfolio verbreitern müssen. Ich glaube, gerade für kleine Einrichtungen kann sich der Verein hervorragend positionieren, indem er das Portfolio integrierter anbietet, sodass diese sich das nicht einzeln zusammensuchen müssen.
Die Welt wird leider Gottes in den nächsten 20 Jahren nicht friedlicher. Wir werden das ganze Thema Resilienz und Informationssicherheit sehr viel stärker im Fokus haben. Hier hat der DFN die kleinen Einrichtungen schon sehr gut im Blick.
Was wünschen Sie dem DFN-Verein für die kommenden 40 Jahre?
Ich wünsche dem DFN-Verein, dass er die technischen und betrieblichen Entwicklungen sowie die steigenden Anforderungen aus Forschung und Lehre weiterhin hervorragend meistern wird und die wertvollen Vernetzungsstrukturen, die in 40 Jahren aufgebaut wurden, auch künftig Bestand haben. Sie sind die Basis und die Zukunftssicherung für den Verein. Das gilt noch viel mehr für die Menschen im DFN, die im Dienste der Wissenschaft jeden Tag dafür sorgen, dass Netz und Services einwandfrei funktionieren.
Ich bin zu Beginn in ein Umfeld gekommen, in dem ich auf sehr viele kompetente Menschen getroffen bin – ob in der Mitgliedergemeinschaft oder in der DFN-Geschäftsstelle. Ein Umfeld, in dem die Leute sich engagieren wollen und nicht müssen. Das prägt die Kultur und das Miteinander im Verein. Da ist sehr viel Freude im Spiel und Spaß an der Realisierung. Man trifft auf Gleichgesinnte. Ich freue mich, dass ich meinen Teil zu bestimmten Entwicklungen beitragen konnte. Ich habe das unheimlich gerne gemacht.
Ich wünsche dem DFN weiterhin ein so großartiges Engagement in der Mitgliederschaft, in der Geschäftsstelle und in der Geschäftsführung. Der Verein wird sich sicher auch in der Zukunft als wertvoll für die Wissenschaft erweisen – hoffentlich für die kommenden 40 Jahre.
Das Gespräch führte Maimona Id (DFN-Verein)
Wie alles anfing im DFN, können Sie in der Ausgabe 95 ab S. 8 lesen.